De Maiziere verteidigt Sicherheitsbehörden
Der deutsche Innenminister Thomas de Maiziere (CDU) hat die Arbeit der Sicherheitsbehörden im Fall des mutmaßlichen Berlin-Attentäters Anis Amri gegen wachsende Kritik verteidigt. "Ich wehre mich gegen vorschnelle Schuldzuweisungen und Urteile von selbsternannten Experten, die hinterher immer alles genau wissen", sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Die Sicherheitsbehörden in Deutschland machten "grundsätzlich sehr gute Arbeit" und hätten schon einige Anschläge verhindert. Zugleich sagte de Maiziere eine gründliche Prüfung möglicher Pannen mit Blick auf Amri zu. Der gesamte Handlungsablauf werde eingehend daraufhin untersucht, "ob an irgendeiner Stelle Fehler passiert sind oder ob es an gesetzlichen Regelungen gefehlt hat", sagte der Minister. "Das betrifft nicht nur die Sicherheitsbehörden, sondern auch beispielsweise die Ausländerbehörden und die Justiz."
Mutmaßlicher Attentäter wollte offenbar nach Rom
Der mutmaßliche Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt wollte italienischen Medienberichten zufolge ursprünglich nach Rom, bevor ihn die Polizei bei Mailand erschoss. Die Zeitung "Corriere della Sera" berichtete am Freitag, Überwachungskameras auf dem Turiner Bahnhof hätten den aus Frankreich eingetroffenen Amri zweimal dabei gefilmt, wie er Anschlusszüge nach Rom oder Mailand suchte.
Schließlich habe er sich für einen Regionalzug in die Lombardei entschieden, "weil zu so später Stunde kein Zug mehr in die Hauptstadt fuhr". In einigen Zeitungen hieß es, als der 24-Jährige am 23. Dezember gegen 02.00 Uhr in Mailand ankam, habe er einen jungen Salvadorianer gefragt, wo er in einen Zug oder Bus "nach Rom, Neapel oder in den Süden" einsteigen könne.
Von der im Norden Mailands gelegenen Stadt Sesto San Giovanni, wo Amri wenig später bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde, fahren Busse nach Süditalien, Spanien, Marokko und Albanien ab.
Die römische Zeitung "Il Messaggero" hält es für "keinen Zufall", dass Amri in die Hauptstadt wollte. In der Region Latium um Rom habe Amri "wahrscheinlich die engsten Kontakte" gehabt. Der junge Tunesier habe mehrere Wochen in Aprilia südöstlich von Rom bei einem Landsmann verbracht, den er auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa kennengelernt habe und der derzeit inhaftiert sei. Der Polizei zufolge wurden diese Woche in der ländlichen Gegend Aprilia zwei Wohnungen durchsucht, in denen sich Amri vor einem Jahr aufgehalten haben soll.
Bevor Amri im Juli 2015 nach Deutschland kam, war er 2011 auf der nur 140 Kilometer vor der tunesischen Küste gelegenen Insel Lampedusa eingetroffen. Er kam in ein Auffanglager für Minderjährige in Sizilien. Wegen des Versuchs dort eine Schule anzuzünden, wurde er im Oktober 2011 festgenommen und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haft kam er möglicherweise mit radikalen Salafisten in Berührung.
Gentiloni traf Familie getöteter Italienerin
Italiens Premier Paolo Gentiloni hat am Freitag die Familie der 31-jährigen Fabrizia Di Lorenzo besucht, die beim Anschlag in Berlin am 19. Dezember ihr Leben verloren hat. Gentiloni besuchte die Familie Di Lorenzo in ihrer Heimatstadt Sulmona in der mittelitalienischen Region Abruzzen.
Gentiloni kondolierte der Familie im Rahmen der Regierung und signalisierte seine Bereitschaft, Stipendien in Andenken an die junge Frau einzurichten. Gentiloni hatte Di Lorenzo, eine ehemalige Erasmus-Studentin mit Vorliebe für die deutsche Kultur, die seit drei Jahren in Berlin lebte und arbeitete, als "Musterbürgerin" bezeichnet.
Di Lorenzo zählt zu den zwölf Todesopfern des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin. Der mutmaßliche tunesische Täter, Anis Amri, wurde vor einer Woche in Sesto San Giovanni bei Mailand bei einer Kontrolle von einem Polizisten erschossen.
Polen nimmt Abschied von getötetem Lkw-Fahrer
Unter starken Sicherheitsvorkehrungen haben am Freitag nahe Stettin (Szczecin) in Polen die Trauerfeiern für den Lastwagenfahrer Lukasz U. begonnen. Der 37-Jährige war dem Terroranschlag in Berlin vor Weihnachten zum Opfer gefallen. Er hatte ursprünglich den Lkw gefahren, der dann vom mutmaßlichen Attentäter gekidnappt wurde.
Zu dem Gottesdienst im Ort Banie kamen außer Angehörigen, Freunden und Kollegen auch Staatspräsident Andrzej Duda und die Leiterin der Kanzlei von Regierungschefin Beata Szydlo, Beata Kempa. Anschließend sollte Lukasz U. auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt werden.
Der mutmaßliche Attentäter Anis Amri hatte nach den Ermittlungen den Lkw des polnischen Fahrers am 19. Dezember in Berlin in seine Gewalt gebracht und in eine Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz gesteuert. Dabei starben elf Menschen, mehr als 50 wurden verletzt. Amri tötete Lukasz U. als zwölftes Opfer. Der Lkw-Fahrer hinterlässt seine Frau und einen 17-jährigen Sohn.
Italien will auf starke Vorbeugung setzen
Nach dem Anschlag in Berlin will Italien weiterhin auf starke Vorbeugung gegen den fundamentalistischen Terrorismus setzen. Seit Anfang 2015 seien 132 Personen wegen Kontakten zu fundamentalistischen Kreisen ausgewiesen worden, sagte der italienische Innenminister Marco Minniti bei einer Pressekonferenz am Freitag.
Die "Neutralisierung" des mutmaßlichen Attentäters von Berlin, Anis Amri, nahe Mailand bezeuge, dass Italiens Sicherheitssystem gut funktioniere. Minniti bekräftigte, dass Amri den bisherigen Ermittlungen zufolge keine Komplizen in Mailand und Umgebung hatte. "Seitdem er in Italien eingetroffen war, hat er sich allein bewegt", so Minniti. Kein Detail werde bei den Ermittlungen über Amri in Italien unterschätzt.
Kein Hinweis auf Komplizen Amris in Mailand
Der mutmaßliche Attentäter von Berlin hat den bisherigen Ermittlungen zufolge keine Komplizen in Mailand und Umgebung gehabt. Die Ermittlungen hätten "keine Verbindungen von Anis Amri zu möglichen Komplizen oder Unterstützern in Mailand und in der Mailänder Umgebung ergeben", sagte der Polizeipräsident der norditalienischen Stadt, Antonio de Iesu, am Freitag.
Man könne nur sagen, dass sich in Mailand der Kreis schließe, sagte de Iesu. Denn der Lastwagen, mit dem der Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt verübt worden war, kam ursprünglich aus der Mailänder Umgebung. Außerdem wurde Amri nach dem Attentat mit zwölf Toten im Vorort Sesto San Giovanni nahe der Millionenstadt erschossen. "In Wirklichkeit scheint das nur ein Zufall zu sein", sagte de Iesu.
Entlasteter Verdächtiger beschuldigt Polizei
Der unmittelbar nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt festgenommene und dann wieder freigelassene Pakistani Naveed B. beschuldigt die Polizei, misshandelt worden zu sein. Das schreibt die britische Zeitung "The Guardian", die nach eigenen Angaben mit dem früheren Verdächtigten gesprochen hat.
"Er erinnert sich daran, dass zwei Polizisten die Fersen ihrer Schuhe in seine Füße gruben, und dass einer mit einer Hand großen Druck auf seinen Nacken ausgeübt hat", heißt es in dem Artikel. Als er sich später gegen Fotos und Entkleidung gewehrt habe, hätten sie ihn geohrfeigt. Der herbeigeholte Übersetzer habe zudem nicht seine Muttersprache, das mit dem Persischen nahe verwandte Belutschisch, sondern nur die pakistanische Nationalsprache Urdu gesprochen, die er selbst verstehe, aber kaum spreche.
Laut "Guardian" hat B. mit dem Blatt gesprochen, um bekannter zu machen, dass er unschuldig sei. Er fürchte in Deutschland um sein Leben, nachdem sein Name im Zusammenhang mit dem Anschlag verbreitet worden sei. Außerdem sei seine Familie in Pakistan von Sicherheitskräften kontaktiert worden. Es habe Drohanrufe gegeben.
Der Mann, der zuletzt in einem Asylwerberheim in Berlin lebte, stammt aus der armen und unruhigen Provinz Baluchistan. Dort sind viele Extremistengruppen aktiv, unter anderem Separatisten, die für mehr Unabhängigkeit kämpfen. Menschenrechtsaktivisten sagen, der Staat lasse regelmäßig Menschen verschwinden. B. war laut "Guardian" für eine säkulare Gruppe aktiv, die sich für Baluchistans Unabhängigkeit einsetzt. Dafür habe er Todesdrohungen erhalten.
Der Pakistani war nach der Freilassung an einen sicheren Ort gebracht worden, damit Asylgegner ihn nicht angreifen können. Im Artikel heißt es, er solle dort zwei weitere Monate bleiben. Er bekomme Essen geliefert und müsse die Polizei benachrichtigen, wenn er hinausgehe.
BAMF-Chef sieht keine Fehler seiner Behörde
Nach den bisherigen Ermittlungen zum Terroranschlag von Berlin und dem mutmaßlichen Attentäter Anis Amri sieht das deutsche Bundesflüchtlingsamt keine Versäumnisse im eigenen Haus. "Amri ist nicht durch das Raster des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) geschlüpft", sagte Behördenchef Frank-Jürgen Weise der "Bild"-Zeitung (Freitag-Ausgabe).
"Vorwürfe mache ich mir daher nicht, aber der Anschlag macht mich sehr betroffen. Der Fall Amri ist Anlass, einige Prozesse auch in unserem Hause nochmals genau zu überprüfen."
Weiter sagte Weise: "Bis jetzt kann ich keine Fehler des BAMF im Fall Amri erkennen." Allerdings gelte auch: "Wir sind noch mitten in der Aufarbeitung und müssen uns alle Details genau anschauen, erst danach kann man eine abschließende Bewertung vornehmen."
Amri erreichte 2011 als tunesischer Flüchtling Italien, saß dort wegen verschiedener Straftaten mehrere Jahre hinter Gittern und kam im Juli 2015 nach Deutschland. Immer wieder täuschte der mittlerweile getötete mutmaßliche Attentäter die deutschen Behörden, benutzte Aliasnamen, stellte mehrere Asylanträge, kam vorübergehend in Abschiebehaft, lebte einmal in Nordrhein-Westfalen, einmal in Berlin. Schließlich entzog er sich der Überwachung der Behörden.
Der scheidende BAMF-Präsident wies darauf hin, dass es im europäischen Asylregister Eurodac keinen Treffer zu Amri gegeben habe. "Wir konnten also nicht wissen, ob er einen Antrag stellte und dieser in Italien abgelehnt worden war. Aber: Selbst wenn wir es gewusst hätten, hätte Amri hier einen Asylantrag stellen können - den hätten wir dann ebenfalls abgelehnt." Das Eurodac-System funktioniere nur, wenn es auch von allen Ländern gründlich mit Daten befüllt werde. "Deutschland tut das intensiv. Wir setzen uns gegenüber den anderen EU-Mitgliedsstaaten dafür ein, dass sie es auch tun."
Bürgermeister für mehr Videoüberwachung
Nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt hat sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller für mehr Videoüberwachung an öffentlichen Orten der deutschen Hauptstadt ausgesprochen. Müller sagte am Donnerstagabend im Sender RBB, er "hoffe sehr, dass es Bewegung in dieser Frage gibt".
Mit Videoüberwachung könnten Straftaten zwar nicht verhindert, aber sie könnten "deutlich schneller aufgeklärt werden". Der SPD-Politiker nannte als mögliche Orte für die Installation zusätzlicher Kameras unter anderem den Alexanderplatz in Mitte, den Verkehrsknotenpunkt Kottbusser Tor im Stadtteil Kreuzberg und den Breitscheidplatz, wo bei dem Anschlag am 19. Dezember zwölf Menschen getötet worden waren. Videotechnik könne in diesen Fällen dazu beitragen, "dass diese Orte sicherer werden", sagte Müller.
Die neue Berliner Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen hatte in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, auf eine Ausweitung der Videoüberwachung zu verzichten. Über einen Ausbau der Videoüberwachung in Deutschland wird seit dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt wieder verstärkt diskutiert.
"Spiegel": Ermittlungen wegen Sozialbetrugs
Die mehrfachen Identitäten von Anis Amri sind den deutschen Ermittlungsbehörden nach "Spiegel"-Informationen schon längere Zeit bekannt gewesen. Die Staatsanwaltschaft Duisburg habe im April 2016 ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs gegen Amri eröffnet, weil er für einen kurzen Zeitraum im November 2015 mehrfach Sozialleistungen bekommen habe, berichtet das Magazin in seiner neuen Ausgabe.
Bei der Berliner Staatsanwaltschaft wurde Amri demnach bereits 2015 aktenkundig. Auf dem Gelände des Berliner Landesamts für Gesundheit und Soziales (Lageso), wo der Tunesier offenbar unter dem Namen "Ahmad Zaghoul" aufgetreten sei, soll Amri einem Wachmann mit der Faust ins Gesicht geschlagen haben. Das Verfahren sei eingestellt worden, weil "Zaghoul" nicht auffindbar gewesen sei.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) führte Amri laut "Spiegel" später absichtlich unter einem falschen Namen, um ihn trotz gegen ihn laufender Ermittlungen in Sicherheit zu wiegen.