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Toni Innauer.

Innauer-Kolumne

Adler-Perspektive von Toni Innauer

Toni Innauer, Skisprung-Olympiasieger und -Weltmeister 1980, ist Buchautor und Vortragender. In seiner monatlichen Kolumne in der Tiroler Tageszeitung macht er sich Gedanken über das aktuelle Sportgeschehen.

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Übertreten!

Am Tag, an dem Borussia Dortmund die deutsche Fußball-Meisterschaft vergeigen wird, sitze ich auf der Tribüne des Mösle-Stadions in Götzis. Meine Schwester und ich genießen einen Tag bunten Weltklassesport und sind Teil eines begeisterten und gleichzeitig entspannten Publikums. Neben mir sitzt Christian Schenk und versorgt uns mit exklusiven Insidereinschätzungen beim 100-m-Sprint und Weitsprung oder zur Form des Ex-Weltrekordlers Damian Warner. Christian ist in diesem Fall nicht der Unfallchirurg aus Schruns, sondern der deutsche Zehnkampf-Olympiasieger von Seoul 1988.

Im Gegensatz zum Skispringen, wo zwei Sprünge zählen, hat der Mehrkämpfer drei Versuche im Weitsprung, der beste zählt. Trotzdem hat Simon Ehammer, den ich nach seinem 8,45-m-Rekordflug vom Vorjahr unbedingt sehen wollte, einen Salto nullo fabriziert. Der Rückenwind ist heimtückischer Spielverderber auf unseren Sprungschanzen. Im leichtathletischen Anlauf bringt er eine wertvolle Geschwindigkeitserhöhung, macht aber das Treffen des Absprungbalkens unberechenbar.

Die geballte Ladung an Energie und Hochform des Schweizers sind im Anlauf und der Explosion beim Absprung regelrecht greifbar. Der zweite Versuch ist traumhaft, vermutlich über 8,30 Meter weit und auf den ersten Blick gültig.

Die Jury prüft per Video, in Superzeitlupe und zusätzlich auf dem Plastilin-Balken, ob der Sportler übertreten hat. Der Supersprung des Appenzellers erhält die rote Fahne: ungültig!

So ist die beinharte Regel, im Zehnkampf bedeutet dies den Super-GAU, man kann zusammenpacken und heimfahren. Genau das blüht dem Schweizer, der nach dem dritten Versuch, bei dem er voll ins Plastilin trat und ausrutschte. Zum Glück bleibt er bei diesem gefährlichen Fehltritt unverletzt. Als seine Kollegen mit dem Kugelstoßen loslegen, schleicht Ehammer mit seiner riesigen Sporttasche auf dem Rücken aus dem Stadion. Alle Träume vorübergehend geplatzt, die Topform weder auf den Boden noch auf die Ergebnisliste gebracht ...

Als langjähriger Regel-Optimierer im Wintersport frage ich mich, warum die moderne Technik nicht genützt wird, um Weitspringer:innen einen Puffer zu bieten und gleichzeitig die Attraktivität der Sportart zu stützen.

Der Plastilinstreifen, der schon böse Verletzungen provoziert hat, könnte durch eine trittfeste Unterlage ersetzt und zur messtechnischen Pufferzone werden: Wer davor abspringt, verschenkt Zentimeter, danach bleibt ungültig. Wer die Zehen innerhalb der Zone hat, bekommt Abzüge, die von der ohnehin vorhandenen Videomessung geliefert werden. Ehammer wäre mit vermuteten 8,29 m, hoch motiviert und zur Freude des Publikums im Zehnkampf geblieben.

Jagd auf die fette Katze

In England wurde jener symbolträchtige Tag im Jahreslauf, an dem die Topmanager so viel verdient haben wie normale Arbeitnehmer:innen im ganzen Jahr, Fat Cat Day getauft. In Deutschland ist dies der 5. Jänner, in Österreich vermutlich – und ohne Bedeutungszusammenhang – der Dreikönigstag. Chefs von Dax-Konzernen sind schon nach dreieinhalb Tagen angekommen, ein Teil davon mit Sicherheit gerade im Urlaub.

Hat das noch etwas mit Leistung oder gar mit adäquater Bezahlung zu tun? Leisten die CEOs tatsächlich um das 200-Fache mehr als normale Beschäftigte? Warum ist die Verhältnismäßigkeit in Amerika extremer als in Europa, warum sind die Skandinavier und ihre Weltkonzerne maßvoller und eher bei einem Verhältnis von 20:1 als 280:1 wie in den USA?

Was haben diese Themen und Vergleiche in einer sportnahen Kolumne zu suchen? Die Frage ist, ob es Parallelstrukturen gibt im professionalisierten Sport oder ob die Dinge im Leistungssport – nomen est omen – fairer, gerechter organisiert sind als in der globalen Wirtschaft.

Schon der Vergleich innerhalb der Sportarten lässt den Glauben daran, dass Einsatz, Anstrengung, Leistung und Erfolg immer angemessen fair belohnt werden, wanken. Das Idealmodell nationaler olympischer Komitees, in dem Goldmedaillen unabhängig von der Disziplin gleich viel Gold-Philharmoniker wert sind, kommt außerhalb der Ringe kaum zur Anwendung.

Bis Anfang der 90er und im internen Vergleich Alpin zu Skispringen wäre der besondere Tag bezeichnenderweise auf den Aschermittwoch gefallen. Die internationalen Skisprung-Einschaltquoten haben den Tag mittlerweile über das Erntedankfest hinaus in den Frühwinter geschoben! Der internationale Fat Cat Day des Sports wird kaum das verrauchte Morgengrauen des neuen Jahres erblicken. Astronomische Fußballsummen oder die mit saudischem Öl gesponserte LIV-Golf–Tour sorgen dafür. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf…

Besondere Spannung bietet der Sport, wenn die Budget-Goliaths und Titanen wackeln, wenn Fat Cat plötzlich laufen muss wie alle anderen. Wenn Red Bull Salzburg oder Bayern München durch besondere Konstellationen sogar im eigenen Land wackeln. In der Serie A in Italien freuen sich (fast) alle über den sensationellen Meistertitel des SSC Napoli. Endlich wieder einmal hat man es den reichen Clubs im Norden gezeigt. Man hat die fetten Katzen mit dem runden Ball und großem Vergnügen über den Stiefel gescheucht.

Darin liegt der faszinierende Unterschied: Sport bleibt, allen finanziellen Absicherungen der Erfolgsarchitekten zum Trotz, doch noch ein Spiel, bei dem man auch verlieren kann. 

STAMS-Dokumentation ein Weckruf

Vor 50 Jahren schaffte ich meine Aufnahmeprüfung, durfte mir den roten Schulpullover kaufen und mit Stolz überziehen. Im rechten der beiden beeindruckenden Türme der Basilika machte ich sieben Jahre später halbwegs erfolgreich die Reifeprüfung. Als „100%iger Stamser“ habe ich meine Frau dort kennen gelernt, unser Jüngster war drei Jahre lang Schigymnasiast.

Die Jahre als Lehrer, Trainer und Erzieher in Stams waren die schönsten meines Berufslebens. Als Ehemaliger bemühte ich mich, den besonderen Geist dieser Institution zeitgemäß weiterzuentwickeln. Ein Geist, der nicht vererbt wird, er muss immer wieder und in jeder Trainingsgruppe neu entfacht werden. Als „Segen der kleinen Schar“ bezeichnete Baldur Preiml die exquisite Möglichkeit, als Trainer eine ideale Gruppengröße von acht bis neun Sportlern fördern, fordern und inspirieren zu können.

Als frischer Uni-Abgänger fand ich meine Aufgabe in der individuellen Begabtenförderung. Die Talente lagen dabei nicht nur im motorischen Bereich. Mit vielen meiner damaligen Schüler bin ich immer noch in Kontakt, obwohl sie, bis auf wenige Ausnahmen, sportlich nicht an die Welt­spitze kamen. Einige wie Alexander Pointner, Heinz Kuttin oder Janko Zwitter haben den Sport als Trainer geprägt. Andere sind erfolgreiche Unternehmer, Lehrer, Medienschaffende, Architekten oder Programmierer. Diese wesentliche Leistung der Schule und die Magie der vertrauensvollen Beziehungsebene zwischen SchülerInnen, Eltern, Trainern und LehrerInnen sucht man im Film vergeblich.

Es wird schonungslos auf den selbstverständlichen und verrohten Umgang mit dem omnipräsenten Verletzungsteufel hingehalten. Das ist leider ein reelles Abbild eines jahrelangen und erschreckenden Verdrängungs- und Gewöhnungsprozesses!

Viel zu kurz kommen andererseits die feinen Kraftlinien des Sports in dieser Spezialschule. Triste, nebelverhangene Bilder und monotonisierte Sequenzen haben den Sound einseitiger Sportkritik der Siebzigerjahre. Damals schon wurde Spitzensport als entfremdete und ausbeuterische Fließbandarbeit angeprangert, Leistung undifferenziert als Zwangssystem kritisiert. Damals wie heute gilt, dass man den Menschen zu vielem zwingen kann, aber niemals zu einer Weltklasseleistung. Dazu gehört nicht nur die gern zitierte Willenskraft, sondern Freiwilligkeit, Raffinesse, Mut, G’spür, Begeisterung und viel Humor.

Warum hat das Filmteam bestenfalls in der Freizeitgestaltung der SchülerInnen Restbestandteile dieser Faszination entdeckt? Waren die Akteure vor laufender Kamera doch gehemmter als gedacht oder die Trainer zu wenig überzeugt von ihrem Handwerk, um es entsprechend interessant zu machen? Oder hat sich der besondere Stamser Geist über die Jahre am Ende doch verflüchtigt?

Der Film ist jedenfalls ein Weckruf!

Crashtests

Der Skisprung-Weltcup vergangenes Wochenende in Willingen hat viele Anlässe zum Nachdenken geliefert. Der gestürzte 161,5-Meter-Sprung des Slowenen Timi Zajc übertraf alles, was ich je an überweiten Sprüngen erlebt hatte. In meinen Skisprunganfängen wäre die Weite noch Weltrekord gewesen!

Um über 160 Meter weit zu fliegen, brauchten unsere Vorgänger in Pullover und Keilhose ehrfurcht­erweckende 112 Stundenkilometer Anlaufgeschwindigkeit. Zajc machte den riskanten Sensationsflug aber mit nur 86,4 km/h. Es genügten durchschnittliche zwei Meter/Sekunde Aufwind, um ihn in eine Flugkurve jenseits des Kontrollierbaren zu schleudern.

Der Grund dafür ist ein physikalischer: Je langsamer ein Flugkörper unterwegs ist, desto extremer wirken sich unterschiedliche Windbedingungen aus. Düsenjets reagieren kaum auf Wind, während Paraglider unmittelbar und stark beeinflusst werden. Skispringen ist durch den V-Stil, die breiten Latten, die getunten Anzüge und das bedrohliche Leichtgewicht der SportlerInnen bis zur Unkontrollierbarkeit windabhängig geworden.

Die Japanerin Yuki Ito lieferte mit ihrem – gerodelten – 154,5 Meter-Flug das Pendant zum Slowenen. Sie demonstrierte, dass manche Frauen grandios fliegen und sogar über die Rekorde der Männer hinaussegeln können. Andererseits zeigen die nackten Zahlen, dass Ito bei ihrem Flug zwölf Luken höher als Zajc startete und immerhin 91,1 km/h dazu brauchte. Je extremer die Schanze, desto größer wird der Unterschied dieser Kenngrößen. Auf den gigantischen Flugschanzen brauchen Frauen noch viel mehr Speed als Männer. Solange sicher geflogen und ohne Sturz gelandet wird, ist alles wunderbar. Frauenskifliegen wird für Verzückung bei Zuschauern, Trainern, Vermarktern und Athletinnen sorgen.

Systematisch ausgeblendet wird das Sturzgeschehen. Nach einem wunderbaren Flug auf 128,5 m stürzte Jenny Rautionaho in Willingen unglücklich nach vorne. Neben Gesichtsverletzungen zog sie sich einen Pneumothorax zu. Ein Verletzungsmuster, an das ich mich im Herrenspringen über Jahrzehnte nicht erinnern kann – und das wohl in der unterschiedliche­n Anatomie der Geschlechter begründet ist.

Zur selben Zeit machte der Beitrag „Maßstab Mann“ auf Puls 4 u. a. auch das Skifliegen für Frauen zum Thema. Mit Vehemenz wurde, auch von Aktiven und Trainern, „gleiches Recht für alle“ gefordert. Frauen würden mit substanzlosen Argumenten am Zutritt auf die größten Schanzen gehindert.

Im selben Beitrag wurde zu Recht angeprangert, dass Frauen ein um über 40 Prozent höheres Verletzungsrisiko bei Auto­unfällen haben als Männer. Die Dummies bei den Crashtests entsprächen dem Durchschnittsmann, nicht aber der speziellen Anatomie einer Frau. Das sei ein Sicherheitsrisiko für Frauen.

Frauen werden beim Skifliegen mit wesentlich höheren Anlaufgeschwindigkeiten als die Männer unterwegs sein und im Falle eines Sturzes sowohl mit höherer Energie als auch mit anderen körperlichen Voraussetzungen aufprallen.

Als Zuseher fragte ich mich, warum es in dem Beitrag nicht gelang, die Schlüsse aus dem Crashtestvergleich auch auf das Frauenskifliegen anzuwenden.

Lärmpegel über dem kritischen Punkt

Geschätzte 15–20 % der Bevölkerung sind sehr lärmempfindlich. Man sucht sich das nicht aus, man hat das, wie der Autor, in den Genen und ist damit Teil eines uralten sozialen Frühwarnsystems. Rund um den Jahreswechsel ist keine beschauliche Zeit für unsereins!

Beispiel Bergiselspringen: eine Veranstaltung mit vorrangig sportlichem Schwerpunkt und „akustischem Ohrenmaß“, möchte man meinen. Auf dem Anstieg zur Tiroler Gedenk- und Sportstätte, erinnern gefüllte Mülleimer, verstreute Knallkörperüberreste und verschreckte Katzen an eine – nach der Corona-Pause – entfesselte neujährliche Lärmorgie.

Auch die Tourneeorte Innsbruck und Bischofs­hofen waren geprägt von professioneller Sprecherleistung aber gesundheitsgefährdender Beschallungslautstärke. Gespräche, die im Probedurchgang nicht erledigt werden konnten, mussten bis nach der Siegerehrung warten. Bei einsetzender Volllast der Boxen war man wehrlose akustische Knetmasse von Lautstärke und widernatürlichen Geräuschen.

Wer – wie die TV-Sender – im Epizentrum beruflich kommunizieren muss, der schafft das nur mit Ohrstöpseln und Mikros. Tontechniker, Moderatoren und Regisseure stoßen an technische Grenzen. Die Wucht des im Stadion wütenden Geräuschpegels dröhnt alles zu.

Die Veranstalter wollen keine Spielverderber sein und glauben allen Ernstes, dass die ZuseherInnen und Kinder die Ballermann-Atmosphäre im Skisport wünschen. Das Rauschen der Anlaufspur, das Klatschen der Ski bei der Landung, die nuancierten Lautäußerungen der vielen tausend Skisprungfans, alles wird vom technischen Wummern, Gedudel und Gekreische geschluckt und erstickt. Viele sportliche Akteure werden zum Rahmenprogramm einer überdrehten Après-Ski-Party geschrumpft.

Tief im ausgehöhlten Symbolberg des Tiroler Widerstandes dröhnt unterdessen unbeirrt die Autobahn. Nach Norden und Süden braust das Getöse des Schwerverkehrs seit Jahrzehnten in einen emissionsbelasteten Talboden. Ein Skisprungfest auf dem Bergisel könnte bewusst als Zeichen und Manifest der Transitregion verstanden und gefeiert werden. Im doppelten Sinn als symbolischer Überbau einer lärmgeplagten Stätte, statt irrwitzigerweise einen Dezibel-Rekord draufsetzen zu wollen.

Gerade haben die Skirennen in Adelboden bewiesen, dass Gänsehautfeeling im Skisport nicht von der Größe der Boxen abhängt.

Die Skispringerinnen fordern ihre Vierschanzentournee und der Zirkus will endlich Flutlicht in Innsbruck. Visionäre Bilder, in die sich – mit einer akustisch angemessenen Choreografie – auch die kritisierte goldene Eule als Siegerinnenpreis bestens einfügen würde. Der Adler ist zwar größer, die Beherrschung des lautlosen Fluges aber ist die Domäne des mystischen Nachtvogels.

Molekularbiologe und Draufgänger

Prof. Werner Franke ist tot. 

Der deutsche Zell- und Molekularbiologe hinterlässt im Leistungssport eine Lücke, die nicht zu schließen ist. Er war ein Original mit überragender fachlicher Expertise, über alle Zweifel erhabener Autonomie und mutiger Streitbarkeit.

„Ich bin ein Besessener!“, sagte er von sich selbst.

Damit meinte er seinen Einsatz als schonungsloser Aufklärer und beinharter Dopingkritiker.

Ihm konnte keiner etwas vormachen.

Mit seiner Frau, der Medizinerin Brigitte Berendonk, einer ehemaligen Kugelstoßerin, schrieb er das Standardwerk „Doping, von der Forschung zum Betrug“.

Mit Fachwissen, detektivischem Instinkt und unerschrockenem Kampfgeist nahmen sie gemeinsam das Staatsdoping der DDR auf die Hörner. Sie retteten die streng geheimen Dopingakten im letzten Moment aus dem Tresor eines Militärspitals vor der Vernichtung und sie machten die atemberaubenden Fakten 1991 öffentlich.

Er kehrt aber auch schonungslos vor dem westlichen Portal seines Landes und scheute dabei nicht vor nationalen Heiligtümern zurück. Er gewann u. a. eine vierjährige Prozess-Tour gegen das deutsche Telecom-Radteam und Jan Ullrich. „Der verratene Sport“ erschien 2007.

In Heidelberg hielt der bissig-humorvolle Westfale seine Vorlesung „Zur Sucht des Staates nach Medaillen“. Als Student war er nicht nur als Leichtathlet und Trainer, sondern auch als Satiriker aktiv und erfolgreich.

Die Wissenschaft zollt ihm höchste internationale Anerkennung, er leitete die Abteilung Zellbiologie am Deutschen Krebsforschungszentrum. „Gene und Proteine, die ich entdeckt habe, tragen den Namen, den ich ihnen geben durfte, auch wenn ich schon in der Grube liegen werde.“

Seine Forschungen machten ihn weltbekannt und unabhängig. Von letzterem Privileg machte er – im Sinne von Fairness und Gesundheit im Profi­sport – großzügig Gebrauch; immer direkt, aber nicht plump, immer uneigennützig und stets auf seine Rechnung.

Bei einer Podiumsdiskussion in Wien fragte ich den Mittsiebziger, ob er denn einen Nachfolger im inhaltlich sturmfesten und unerschrockenen Kampf gegen Doping sehe.

„Über mir ist nur der blaue Himmel, in meiner Position bin ich völlig unabhängig und kann es mir leisten, so provokant aufzutreten. Ich sehe einige, die dafür fachlich qualifiziert und unabhängig genug wären, aber leider niemanden in meinen Fußstapfen …“ bedauerte der Getriebene.

TT_Komgast_Grund2: Wem die Grundsubstanz des Leistungssports und dessen Prinzipien – nicht nur die darin bewegten Geldsummen – etwas bedeuten, dem schwant, dass ohne das gefürchtete Korrektiv Werner Franke eine neue Zeitrechnung beginnen könnte.

Timing

Skispringer trainieren die Absprungbewegung auf hochmodernen Druckmessplatten. Die Messdaten spiegeln den aktuellen Leistungszustand unter vereinfachten Studiobedingungen. Aus den engmaschig diagnostizierten Werten werden individuelle Trainingsempfehlungen. Ein gläserner Athlet soll im entscheidenden Moment den bestmöglichen Trainingszustand abrufen können. Dazu braucht es nicht nur Hantelscheiben, Willenskraft, Zahlen, Kurven und Diagramme, sondern auch viel G’spür für die „Belastungsdynamik“. Wie werden Belastung und Erholung bis zu Beginn der Wettkampfserie oder zu den Saisonhöhepunkten ideal getrimmt? Weniger ist – gerade knapp vor Wettkämpfen – mehr! Vertrauen zwischen Trainer und Athlet:in ist so wichtig wie Vertrauen in die Wirksamkeit der gesetzten Maßnahmen und in die magische Selbstregulation der eigenen Biologie.

Trotzdem sind Kraft und Struktur des Absprungs noch keine Erfolgsgarantien. Sie verpuffen wirkungslos, wenn sie nicht ideal abgemischt werden mit jenen anderen Kräften, die zu spüren, zu verwalten und optimal zu timen sind. Das auf der Wunderplatte automatisierte Sprungmus­ter, das optimierte Zusammenspiel von Knie- und Hüftstreckung kommt auf den Prüfstand der rauen Wirklichkeit. Bei kaum einer Sportart ist der Unterschied zwischen zu früh, zu spät oder „Volltreffer“ so dras­tisch wie beim Skispringen.

Der Absprung muss auf rutschiger Unterlage und unter enormem zeitlichen Stress bei einem Tempo von über 25 Meter pro Sekunde „auf den Tisch gebracht“ werden. Das überfordert die bewusst kontrollierbaren Wahrnehmungs- und Steuerfähigkeiten des Menschen. Das funktioniert nur mit antrainierter Erfahrung, Rhythmusgefühl, Intuition und blindem Vertrauen in die eigene Einschätzung. Timing in Reinkultur!

Timing als übergeordnetes Phänomen wirkt noch in anderen Handlungsdimensionen unseres Sports: 1981 schon hatte ich dem internationalen Skiverband neue radikale Wettkampfformate vorgeschlagen. Es war zu früh und die Ideen wurden gnadenlos ignoriert. Es mussten zuerst die Berliner Mauer, mit ihr die sozialistischen Staatsprofisysteme hinter dem Eisernen Vorhang und der Amateurparagraph fallen. 1990 passte das Timing und Skispringen ging, mithilfe neuer spannender Formate wie Qualifikation, Finaldurchgang und dem Geld des deutschen Bezahlsenders RTL, „durch die Decke“.

Noch vor ein paar Jahren wäre mir ein Weltcupauftakt auf einer Landebahn aus grüner Kunststoffmatte wirklich peinlich gewesen.

Mitten in Klimawandel, Energiekrise und einer – im Frühwinter deplatzierten – Fußball-WM wird diese Premiere in Polen plötzlich zum Alleinstellungsmerkmal und zukunftsweisenden Statement einer Wintersportart: Wir sind flexibel und kommen, wenn es sein muss, mit ganz wenig Schnee aus.

Das Timing passt! 

Geht der Krug zum Brunnen, bis er bricht?

Die große Sportwelt ist im Umbruch, auch der klassische Wintersport wird an den Rand gedrängt. Erstmals wird die Fußball-WM den traditionellen Saisonstart des Skisports ersticken. Sender wie das ZDF konnten ihre Crews jahreszeitlich vom Fußball zum Skispringen und zurück pendeln lassen. Plötzlich funktioniert das nicht mehr, wegen der Überlappung der Fußball-WM in Katar z. B. mit den Auftaktveranstaltungen im Skispringen. Also werden die großen Sender die Springen im Frühwinter nur auf öffentlicher Sparflamme „streamen“.

Würden die riesigen Summen nicht so hell blenden, dann würden Beobachter noch kritischer reagieren auf die gierigen Bemühungen, die Topsportarten bis auf den letzten Tropfen Glaubwürdigkeit und Regenerationsfähigkeit auszubeuten.

König Fußball mit seinen unzähligen Ligen, Meisterschaften und Cups schießt dabei den Vogel ab. Wer, außer den Insidern, kann auf Anhieb sagen, worum es z. B. bei den Matches der Nations-League eigentlich geht, ob es schlimm oder „wurscht“ ist, wenn „wir“ dort ausscheiden?

Zumindest die operettenhaft exklusive „Super-League“ der reichsten Clubs musste eilig zurückrudern, weil die Macher realisierten, dass sie hochnotpeinlich ins Abseits der Fans geraten waren.

Der „Laver Cup“ stand ganz im Zeichen des Abschieds von Roger Federer. Sonst hätte man bemerkt, dass manche der Match-Emotionen von Spielern und Betreuerlegenden sowie der „mitfiebernden“ Teamkollegen gelegentlich gekünstelt wirkten.

Laver Cup, Davis Cup, ATP-Finale ...! Profis spielen zwar selbst mit submaximalem Einsatz immer noch sehenswert. Am schwersten fällt es aber offensichtlich den ganz großen Namen, nur für Bares ihre Höchstform herauszuquetschen.

Gerade wird auch die traditionelle Golf-Welt mit Geld gespalten. Die „LIV-Tour“ lockt mit Dollar-Dünen aus Saudi-Arabien. Knapp fünfzig Spieler, auch Bernd Wiesberger, haben bereits die Seiten gewechselt. Tourmanager Greg Norman, einst „der große Weiße Hai“, konnte den Abtrünnigen den Schmerz des Ausschlusses aus der PGA mit grotesken Startgeldern versilbern. Fast alle Topleute blieben trotzdem der PGA treu, schließlich ist die Teilnahme an den Majors und am prestigeträchtigen Ryder Cup damit verknüpft. Donald Trump, Gastgeber der LIV-Turniere in den USA, hat erwartungsgemäß seine eigene Wahrnehmung: „Wir haben hier die weltbesten Golfer!“

Dieser Golf-Krieg könnte enden wie beim Boxen. Immer schon wurden dort ungeniert die Wechselwirkungen von Geld, Sport und Ergebnis gelebt und gesteuert. Schon vor Jahrzehnten kam es bei den professionellen Faustkämpfern und ihren Managern zu Abspaltungen und Gründungen von mehreren Welt-Boxverbänden und Ranglisten und damit zum Verlust von Eindeutigkeit, öffentlichem Vertrauen und Interesse.

Glanz im Scheitern

Im letzten Monat habe ich zwei Niederlagen von Dominic Thiem live miterlebt. Die im proppevollen Kitzbüheler Stadion und jene vor dem Bildschirm in New York. Unterm Hahnenkamm hätte ich heucheln müssen, um die Vorstellung als vielversprechend zu bezeichnen. Seit den US-Open und trotz der Erstrunden-Niederlage glaube ich wieder an Thiems Rückkehr in die Weltklasse.

Sein Ausscheiden in Amerika hat zwei Seiten. Abgang in der ersten Runde „seines“ Grand-Slam-Turniers. Geschlagen von einem Pablo Carreño Busta, gegen den er bis dahin eine makellose 7:0 Bilanz hatte, klingt schon ernüchternd.

Man kann aber auch sehen, dass es seit seiner Handgelenksverletzung und im Laufe des mühseligen Comebacks das erste Match war, bei dem viele Sequenzen dabei waren, die ohne Schönreden an seine Glanzzeiten erinnerten. Mit ein bisschen mehr Konstanz und einigen Eigenfehlern weniger hätte es klappen können gegen die Nummer 15 der Weltrangliste. Für mich verblassen das nackte Ergebnis und die „Hätte-wäre-Logik“ aber völlig neben den frischen Akzenten, die Dominic endlich lieferte.

Es ist das Los eines Tennisspielers im Comeback-Modus, dass er sich der gnadenlosen Realität vor Publikum stellen muss, obwohl er noch nicht in Top-Form ist. Diese Konstellation lässt sich im Training nicht simulieren. Nur das öffentliche „Fegefeuer des Ernstfalls“ setzt das volle Spektrum an Reizen. Entscheidend ist nicht das Resultat, sondern der Lern- und Entwicklungsprozess, und dass auf dem medialen Präsentierteller alle Register gezogen werden.

Natürlich wäre ein Sieg eine Erlösung gewesen, viel wichtiger ist aber, dass sich endlich innere Blockaden und Schleusen gelockert haben und Energien frei geworden sind. Thiems Schläge klangen in Kitz noch dumpf und harmlos. Seine ehemals gefürchteten Waffen waren bemühter, aber harmloser Abglanz vergangener Triumphe.

In New York bellte wieder jener aggressive Knall über den Court, den Busta so gut als Begleitmusik früherer Begegnungen kannte. Oft genug war er unentrinnbar in die „Vorhandmühle“ seines Angstgegners geraten.

Dominics geschundenes Handgelenk ließ sich phasenweise wieder peitschen wie in den besten Zeiten. Mutig und früh genommene Bälle mit einem schwer auszurechnenden Eigenleben aus Drall und Geschwindigkeit sorgten für Aufruhr und teilweise Überforderung in Bustas Hälfte. Bei Dominic blitzten Rasanz und Spannkraft auf, couragiert schoss er sich aus der überforderten Opferrolle, wollte selber gestalten. Phasenweise gelang es überzeugend.

TT_Komgast_Grund2: Die Lust und Freude an der Wirksamkeit der eigenen Schläge kehren zurück. Vorübergehender Kontrollverlust, Fehler und auch das Ausscheiden hat er für diesen entscheidenden Schritt mutig in Kauf genommen. 

Seitensprünge

Um es auf eine Titelseite zu schaffen, muss man im internationalen Sportsommer außerhalb von Formel 1 und Fußball-Champions-League schon gewaltige Sprünge machen. Erfrischende junge Wilde, wie z. B. die Nordischen Exoten Ruud und Rune oder der Spanier Alcaraz, kriegen es mit dem gelben Filzball hin und sind die neue Würze rund um die Gigantenduelle zwischen Nadal und Djokovic.

Ein Schweizer Springer, Simon Ehammer, hat es auch geschafft! Seine 8,4 Meter im Weitsprung der Zehnkämpfer in Götzis sind Weltrekord für die Mehrkämpfer und überstrahlten – aus zugegeben persönlicher Perspektive – alles, was an jenem Wochenende sportlich passiert war.

Weit- und Hochspringer liefern archaische Rekorde. Auch als Nichtsportler hat man sie quasi vor Augen. Es genügen achteinhalb große Schritte oder für ganz Exakte ein Meterband, und schon stehen wir, im Abgleich mit dem eigenen Sprungvermögen, vor einem großen Rätsel: Wie bitte soll DAS menschenmöglich sein?

Gut erinnere ich mich an Bob Beamons Jahrhundertsprung von Mexiko-City 1968. Seine 8,90 Meter haben wir in der verwachsenen Sprunggrube der Hauptschule in Bezau und später auch noch in jener des Skigymnasiums in Stams akribisch vermessen. Beamons Landung wäre in beiden Fällen erst weit nach der Sandgrube wieder auf dem Rasen erfolgt ...

Meine Schwester war jahrzehntelang Wirtin auf dem heimatlichen Sonderdach. Nie hat sie mich um Karten für ein Skispringen oder Skirennen gefragt. Das Mehrkampfmeeting im Möslestadion, das allerdings möchte sie unbedingt einmal sehen! Heuer hätten wir es fast geschafft, dann kam etwas dazwischen. Wir werden es nachholen, der Wundersprung allerdings ist uns entgangen.

Der 22-jährige Schweizer hat einen Tiroler Vater und war schon Sieger der „Golden Roof Challenge“ in Innsbruck. Mit 8,45 Metern hätte er bei den Olympischen Spielen 2008, 2012, 2016 und 2021 die Goldmedaille in der Spezialdisziplin gewonnen, das dürfte auch den Spezialisten nicht entgangen sein.

Was könnte der Mann wohl leisten, wenn er den Zehnkampf bleiben ließe und sich voll auf den Weitsprung konzentrieren würde? Als Trainer und Optimierer denkt man sofort an Erhöhung der Anlaufgeschwindigkeit, forciertes Techniktraining, längere Erholungsphasen, Gewichtsreduktion etc.

Als echter Mehrkämpfer aber liebt Ehammer die Abwechslung in Training und Wettkampf, die vielseitige Herausforderung. So wie z. B. ein Jarl Magnus Riiber der Nordischen Kombination treu blieb, obwohl er ein herausragender Spezialspringer geworden wäre, wird Ehammer Zehnkämpfer und trotz Tiroler-Adler-Tattoo wohl Schweizer bleiben.

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