Ein Trainer muss auch gegensteuern
Die Skisprungsaison biegt in die Zielgerade, der Frühling lässt sich trotz Kälteeinbruch nicht mehr aufhalten. In den letzten Tagen und Wochen haben sich Dinge ereignet, die sich mental nur schwer miteinander vereinbaren lassen. Ich selbst konzentrierte mich voll und ganz auf „Dancing Stars“, eine Unterhaltungsshow, die wieder mehr Leichtigkeit in unser Leben bringt. Gleichzeitig kämpft Dawid Kubackis Frau Marta seit einer Woche auf der Intensivstation ums Überleben. Das ruft natürlich dramatische Erinnerungen an unser eigenes Schicksal hervor: Ich weiß nur zu gut, wie hart es ist, so plötzlich aus dem Alltag gerissen zu werden. Der Sport wird da zur absoluten Nebensache. Und doch gilt es an dieser Stelle, das Wettkampfgeschehen und das Abschneiden der ÖSV-Teams zu kommentieren.
Es heißt Abschied nehmen von einem, der in den letzten Jahren unglaublich viel für Österreichs Damen-Skispringen geleistet hat: Harald Rodlauer nimmt seinen Hut und verlässt das so erfolgreiche Team um Gesamtweltcupsiegerin Eva Pinkelnig. Der Gewinn des Nationencups spricht für die Dichte bei den ÖSV-Damen, bei denen sich mit Julia Mühlbacher ein hoffnungsvolles Nachwuchstalent aufgedrängt hat. Rodlauers Nachfolger erbt aber auch eine schwierige Aufgabe:
Das Teamgefüge hat sich durch den hartnäckigen Leistungseinbruch von Sara Marita Kramer mit Sicherheit verändert und es braucht viel Fingerspitzengefühl, um da eine neue Balance herzustellen.
Die Herren haben am letzten Wochenende und insgesamt bei der Raw Air gezeigt, was wirklich in ihnen steckt. Das Potenzial für ein neues Superadler-Team wäre da, nur leider hat man dieses viel zu spät in dieser Saison abrufen können. Jetzt, wo es praktisch um nichts mehr geht, freut man sich über (Team-)Siege und Stockerlplätze (Daniel Tschofenig). Gerade in Lahti sind die Windverhältnisse traditionell sehr turbulent, wie sie es auch wenige Wochen zuvor in Planica waren. Doch was in Finnland selbstverständlich blieb, wurde bei der WM zum großen Thema aufgebauscht – und damit zur selbst verursachten mentalen Barriere im Kopf.
Es ist Andreas Widhölzls große Stärke, immer Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, doch manchmal muss man als Trainer aktiv gegensteuern. Für die Zukunft muss man sich mehr dazu einfallen lassen, wie Athleten zum richtigen Zeitpunkt ihre beste Leistung abrufen können.
Da hätte mehr kommen müssen
Was gibt es Besseres für die Stimmung bei einer Weltmeisterschaft als einen Sieg der heimischen Mannschaft? Für die Gastgeber aus Slowenien endete diese Großveranstaltung daher versöhnlich, endlich gab es wieder großartige Planica-Atmosphäre mit vielen frenetisch jubelnden Zuschauern.
Die ÖSV-Skisprung-Herren schafften ihre einzige Medaille auf den letzten Metern: Für das zuletzt so aufgewühlte Klima im Team sicher eine wichtige Beruhigung, für mich leuchtet Bronze aber zu matt. Auch auf die Gefahr hin, in Anlehnung an „Dancing Stars“-Kritiker als Balázs Ekker des österreichischen Skisprungsports abgestempelt zu werden: Da hätte mehr kommen müssen. Vor allem für den Mannschaftbewerb war man mit den besten Voraussetzungen angereist: als führende Nation im Weltcup, regierender Olympiasieger und Gewinner eines Weltcupbewerbs in der laufenden Saison. Am Samstag gab es auch keine Ausreden mehr bezüglich des Windes, wobei ich diese ohnehin nur sehr bedingt gelten lasse.
Zum Positiven: Michael Hayböck hat mit einer hervorragenden Leistung viel zu dieser Medaille beigetragen, er ist ein perfekter Teamspringer, im Einzel steht er sich wohl selbst im Weg. Für Daniel Tschofenig war dieser Ausgang als einziger Gold wert, er konnte die Aufregung der letzten Tage hinter sich lassen und fand wieder zu seiner Form zurück. Tschofenig gehört die Zukunft. Umso wichtiger ist es, dass er mit einem positiven Gefühl abreisen kann.
Stefan Kraft wird zwar froh sein, dass er nicht ohne Medaille heimfahren muss, das spart viel unnötige Energie, die er sonst für Rechtfertigungen vor den Medien investieren hätte müssen. Allerdings war der Salzburger als Top-Favorit mit hohen Erwartungen angetreten, konnte aber keinen besonderen Höhepunkt setzen. Die richtigen „Bomben“ haben andere in den Auslauf gesetzt.
Der Vierte im Bunde, Jan Hörl, kommt heuer nicht richtig in Fahrt, konnte wenigstens die Polen, denen ein vierter guter Mann fehlt, auf Distanz halten. Insgesamt ist er mir derzeit zu farblos – ähnlich wie das Trainerteam. Ich habe den Eindruck, es wird alles, was kommt, fast teilnahmslos hingenommen. Die großen Ziele scheinen ebenso zu fehlen wie die passenden Strategien, um diese zu erreichen. Glück ist immer ein Faktor beim Skispringen, doch wer gerade für Großveranstaltungen in allen Bereichen gut aufgestellt ist, der braucht davon wesentlich weniger.
Neu gemischte Karten bei den Springern
Der Weg zu Medaillen bei der Nordischen WM in Planica ist für Österreichs Skisprungteams geebnet. Damen und Herren sind gut vorbereitet, die Chancen auf Edelmetall, vor allem auf Gold, sind groß wie selten zuvor. Heißeste KandidatInnen sind natürlich die beiden Aushängeschilder Eva Pinkelnig und Stefan Kraft.
Doch während Pinkelnig als Weltcupführende die Gejagte sein wird, gilt es für Kraft, den dominierenden Halvor Egner Granerud abzufangen. Im Team und im Mixed wird am ÖSV allerdings kein Weg vorbeiführen, da stellen wir die absoluten Top-FavoritInnen. Medaillen liegen bekannterweise nicht zum Abholen bereit, entscheidend wird sein, wie die einzelnen AthletInnen in die ersten Trainings starten. Wer eine erste Duftmarke setzt, der kann mit viel Selbstvertrauen die nächsten Schritte gehen, wer sich schwertut, läuft möglicherweise bis zum Schluss hinterher. Pinkelnig wird da mit ihrem großartigen Energiemanagement und Kraft mit seiner Besonnenheit sicher vorangehen.
Bei den Herren wurden die Karten in den letzten Wochen vor der WM neu gemischt: Ryoyu Kobayashi fand in seiner Heimat zu seiner Form zurück, Andreas Wellinger in Lake Placid und Rasnov. Die Deutschen sind im Wettkampfrhythmus geblieben und platzierten zuletzt fünf Springer in den besten sechs. Das gibt natürlich Auftrieb und macht die ganze Sache spannend, da Österreich, Norwegen und Polen mit den Topspringern pausierten – erst in Planica wird sich zeigen, wer jetzt die Nase vorne hat. Viel erwarte ich mir auch von Anze Lanisek, der bei seiner Heim-WM die Schanzen in- und auswendig kennt. Beim ÖSV würde sich Kraft leichtertun, wenn sich der Druck im Einzel auf mehrere Schultern verteilen würde. Vielleicht war für Daniel Tschofenig ja der erste Stockerlplatz in Lake Placid die Initialzündung für den erhofften Durchbruch. Manuel Fettner ist ohnehin der Mann für Großereignisse.
Bei den Damen wird der Kampf um Gold ebenfalls spannend, denn mit Katharina Althaus und Anna Odine Stroem hat Eva Pinkelnig zwei sehr starke Gegnerinnen, die heuer schon einigen Wettkämpfen ihren Stempel aufdrückten. Für die Vorarlbergerin spricht, dass sie heuer so konstant auf extrem hohem Niveau springt und ein kurzes Tief in Willingen schnell überwunden hat. Sie muss im Gegensatz zu anderen keine Angst vor einem schlechteren Training haben, denn sie weiß, wie sie damit umzugehen hat.
Zwischen Flow und Regeneration
Lake Placid feierte als Veranstaltungsort ein sehenswertes Comeback. Als dort das letzte Mal ein Weltcupbewerb stattfand, war ich noch als aktiver Springer dabei und das ist nun wirklich schon lange her.
Die drei Wettkämpfe in Übersee boten ein ganz eigenes Flair: Die zahlreichen Zuseher verloren sich fast im extrem weitläufigen Gelände und auch der Wind spielte eine gewichtige Rolle, immerhin stehen die Schanzenanlagen quasi im Nirgendwo. Es war nicht leicht, sich auf diese schwierigen Bedingungen einzustellen. Bei kaum bekannten Schanzen können auch bewährteste Bewegungsabläufe nicht wie eine Schablone angewandt werden. Es gilt, sich auf den ganz eigenen Rhythmus des Bakkens einzustellen. Das ist den Besten wie Granerud oder Kraft am Ende gelungen, obwohl der erste Bewerb für beide völlig misslungen war. Wer im Flow ist, der lässt sich nicht so leicht aus der Bahn werfen.
Doch wie lässt sich dieser Zustand, in dem alles leichter fällt, am besten konservieren, zumal die WM vor der Türe steht? Das ÖSV-Team lässt den nächsten Weltcup in Rasnov aus, um zu trainieren. Andere werden diesem Beispiel folgen. Es bedarf einer sorgfältigen Abschätzung, was am besten ist: Bleibt man bewusst im Wettkampfrhythmus, um den Flow zu halten und die Weltmeisterschaft als „ein weiteres Springen an einem weiteren Wochenende“ mental zu entschärfen? Oder bereitet man sich bewusst in Ruhe vor? Entscheidend ist in beiden Fällen die Erholung. Eine, die mit großem Erfolg auf Regeneration setzt, ist Eva Pinkelnig. Sie lässt in der Wettkampfphase schon einmal ein Training aus, um für den Wettkampf Kraft zu tanken. Ein guter Trainer weiß jedenfalls ganz genau, was seine Schützlinge brauchen.
Ich habe bei Dancing Stars zum Glück mit Manuela Stöckl eine ganz ausgezeichnete Trainerin und Partnerin. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten fühle ich mich wieder wie ein nervöser junger Springer vor einem wichtigen Wettkampf. Mit dem Unterschied, dass ich damals wusste, was zu tun ist. Beim Tanzen ist jeder Schritt, jede Körperhaltung, jeder Ausdruck neu und völlig ungewohnt für mich. Manuela stülpt mir aber nicht einfach eine Choreographie über, sondern bringt mir zunächst die Basics bei und „schaut einmal, was alles möglich ist“.
Dass ich bei der ersten Sendung dann performen muss, versuche ich aus meinen Gedanken zu streichen – zu groß ist noch die Angst, mich zu blamieren.
Es braucht mehr Kontrollen beim Anzug
Es war ein beeindruckendes Erlebnis für mich, das erste Mal seit neun Jahren wieder einen Skiflugbewerb vom Trainerturm aus beobachten zu dürfen. Anders als in meiner aktiven Zeit wurden mir diesmal die faszinierenden Dimensionen, die diesen Sport ausmachen, voll bewusst. Der Kulm bot zwei völlig unterschiedliche Wettkampftage. Beim ersten Bewerb herrschte überraschend starker Aufwind, die Jury war daher gezwungen, mit einem kurzen Anlauf die Geschwindigkeit zu drosseln. Das hatte zur Folge, dass es für die Sportler ein extrem schmaler Grat war, ob sie bei 120 Metern landeten oder über 220 Meter weit segelten. Die Flugkurve war so niedrig, dass Einzelne sogar mit den Hinterenden der Ski am Vorbau streiften, aber erneut abhoben, da sie ihre Flugposition beibehielten!
Am zweiten Tag wehte der Aufwind nur schwach, entsprechend konnte mehr Geschwindigkeit zugelassen werden. Bis zu 4 km/h mehr sorgten für einen wesentlich höheren Luft-stand und weniger Streuung in den Weiten. Bei beiden Bewerben wurde aber klar, wer zurzeit sportlich das Sagen hat: Halvor Egner Granerud und Stefan Kraft. Die zwei kamen mit allen Bedingungen am besten zurecht und stellten damit die Weichen in Richtung WM bzw. auch Richtung Gesamtweltcup, da Kubacki und Lanisek deutlich abfielen.
Die zwei Wettkämpfe am Kulm brachten für mich aber auch ein Problem, das ich schon länger beobachte, deutlich zu Tage: die unzähligen Tricksereien bei den Anzügen. Offensichtlich hat man in diesem entscheidenden Bereich die Kontrollen immer noch nicht im Griff. Hier muss von Seiten der FIS endlich ein Machtwort gesprochen werden: Es braucht mehr Kontrolleure, mehr Messungen und noch genauere Maßvorgaben. Eine Reduktion der Flugfähigkeit bei den Anzügen würde dem Sport sicher guttun, denn so ließen sich Wettkämpfe besser steuern und die teils extreme Streuung bei den Weiten würde verhindert. Derzeit sind im Prinzip alle Nationen dazu gezwungen zu schummeln, wo es nur geht. Anders hat man tatsächlich keine Chance.
Beim Skifliegen greift ein Phänomen
Für mich war die Faszination Skifliegen als Athlet und Trainer nirgends so deutlich spürbar wie in Bad Mitterndorf/Tauplitz. Das lag einerseits natürlich daran, dass es in Österreich nur diese eine Flugschanze gibt. Andererseits gibt es kaum einen Ort, bei dem man als heimischer Akteur der traditionellen Begeisterung für das Fliegen persönlich so nahe kommt. Das zeigt schon die Entstehungsgeschichte des Kulm, die eng mit dem Familiennamen Neuper verknüpft ist. In den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts bauten fanatische Männer rund um Alois Neuper mit einfachsten Mitteln eine gewaltige Naturschanze in den Hang am Fuße des Grimming – harte Knochenarbeit für ein paar Sekunden Luftstand, für das so heiß ersehnte Gefühl des Fliegens. Dass sein Enkel Hubert Neuper später ein erfolgreicher Skispringer und enthusiastischer Veranstalter des Kulm-Fliegens werden sollte, war da wohl schon vorgezeichnet.
Heute ist der Kulm eine moderne Schanzenanlage mitten im Grünen, die jedem Athleten großen Respekt abringt. Für die weniger Routinierten können die auftretenden (Luft-)Kräfte überwältigend sein: die extrem schnelle Anfahrtsgeschwindigkeit, der hohe Luftstand und der große Druck, der die Skier mit aller Macht gegen den Körper presst. Alles scheint schneller und wuchtiger abzulaufen und doch muss der Sportler gerade nach dem Absprung den Mut aufbringen, um geduldig zu bleiben. Der ungewohnt lange Vorbau verzeiht keine Fehler, wer da zu früh auf die Skier drückt, dem droht großes Ungemach: Jedem Skisprungfan sind wohl die furchtbaren Stürze in Erinnerung, bei denen dem Springer hoch in der Luft ein Ski wegkippt und das Ganze fatal endet.
Die routinierten Athleten hingegen wissen diese Luftkräfte für sich zu nutzen. Es klingt paradox, doch obwohl die Geschwindigkeiten höher sind, haben Topspringer mehr Spielraum, um einen harmonischen Bewegungsablauf umzusetzen. Dieses Zeitlassen nach dem Absprung und der gewaltige Luftwiderstand über dem Vorbau machen es viel leichter möglich, auf einem Luftpolster in die Tiefe zu gleiten. Wie bei einer gewaltigen Welle, deren Kamm man perfekt reitet. Beim Skifliegen greift dann ein Phänomen, das es beim Springen so nicht gibt: Springer und Skier werden zu einem eigenständigen Flugkörper, der anstatt wie bei einer Wurfparabel weiter oben zu landen, noch einmal abhebt und zu Rekordweiten segelt.
Ein Tiroler verleiht Polen Flügel
Dass Polen ein skisprungverrücktes Land ist, wurde mir schon beim Transfer von Krakau nach Zakopane wieder bewusst:
Zwei Stunden lang wurde im Radio nur über Skispringen philosophiert. Es war ein ganz besonderes Erlebnis für mich, nach neun Jahren ins Mekka dieses Sports zurückzukommen. 2014 war ich als Trainer das letzte Mal dort, doch schon als junger Springer hatte mich die Skisprung-Begeisterung der Menschen dort fasziniert. Ein Bewerb wie am Wochenende in Zakopane ist immer ein riesiges, unfassbar lautes Volksfest. Zu den besten Zeiten befanden sich 30.000 Fans im Stadion und genauso viele schauten von außen zu. Die Polen sind natürlich auch Patrioten, doch gefeiert werden alle Sieger. Es geht um den Sport und nicht nur um den Erfolg an sich. Daher wurden auch die Österreicher frenetisch bejubelt, obwohl sie den Hausherren den Sieg im Teambewerb mit hauchdünnem Vorsprung wegschnappten.
Das Zünglein an der Waage war eindeutig Daniel Tschofenig als „vierter Mann“. Tschofenig fühlt sich in Zakopane extrem wohl, kürte er sich doch hier im Vorjahr zum dreifachen Junioren-Weltmeister. Maßgeblich an Tschofenigs Ausbildung beteiligt war Thomas Thurnbichler. Für den neuen Coach der Polen war der Druck beim ersten Heimspringen immens. Man erwartet sich viel vom jungen Tiroler, vor allem auch im Nachwuchsbereich.
In Zakopane wurde viel investiert. Ich durfte gestern die neue Infrastruktur besichtigen, so wie übrigens eine Schweizer Delegation, die sich Impulse für ihren Bewerb in Engelsberg holen wollte. Zakopane ist mit seinem Volksfest-Charakter Vorbild für die meisten Skisprungveranstaltungen, einzig die Vierschanzentournee behielt lange ihr traditionelles (und ruhigeres) Erscheinungsbild. Das moderne Trainingszentrum mit angeschlossener Sportschule verfügt über Schanzen in fast allen Größen. Doch obwohl es in Polen eine lange Tradition und ähnlich wie in Österreich eine Skisprungkultur gibt, fehlt es beim Nachwuchs an modernem Know-how. Polens vielversprechendste Nachwuchshoffnung Pavel Wasek muss viel aufholen, um mit Tschofenig mithalten zu können. Dank Thurnbichler wird nun österreichisches Wissen in die Trainerausbildung und die Talenteförderung einfließen. Ich sehe das so wie die polnischen Fans nicht als Verlust, sondern als Gewinn für den Skisprungsport.
Wieder eine Tournee der vergebenen Chancen
Hut ab vor Halvor Egner Granerud! Die Entwicklung, die der Gewinner der diesjährigen Vierschanzentournee hinter sich gebracht hat, ist wirklich beeindruckend. Der Norweger ließ nie Zweifel daran aufkommen, dass er sich dieses Mal die Chance auf den Gesamtsieg nicht nehmen lassen wird. Drei Siege und ein zweiter Platz, der Gold wert war – dass er in Innsbruck kurz ins Straucheln kam, aber das mentale Werkzeug parat hatte, um sich selbst wieder in die Spur zu bringen, macht Granerud zum ganz großen Gewinner.
Die Österreicher haben ihr Minimalziel, einen Stockerlplatz, nicht erreicht. Und das, obwohl sie in Bischofshofen wesentlich mehr aus sich herausgegangen sind und sich mit mehr Biss nach vorne kämpften. Vier Springer unter den besten 10 sind mannschaftlich eine gute Leistung, ich habe aber trotzdem das Gefühl, dass der Abstand zu den besten drei falsch eingeschätzt wird. Anders kann ich es mir nicht erklären, warum Cheftrainer Andreas Widhölzl von fünf Athleten spricht, die auf das Stockerl springen können. Man glaubt, man sei so knapp dabei und es müsste einfach nur passieren.
Doch gerade an Graneruds Beispiel sieht man, dass es den entscheidenden letzten Schritt braucht, um ganz an die Spitze zu kommen, nicht umsonst hat man in Norwegen den ganzen Sommer über an einem Konzept für die Tournee gearbeitet. Das Wichtigste beim ÖSV wäre nun, dass analysiert wird, warum die Österreicher gestern, als es um nichts mehr ging, viel überzeugender und willensstärker auftraten. Oder warum das, was bei Mannschaftsspringen funktioniert, bei den Einzelbewerben nicht greift. Vielleicht liegt es ja daran, dass man die Erwartungen von vorne herein klein hält, damit man dann, wenn es mit dem Sieg nicht klappt, nicht zu enttäuscht ist.
Die ÖSV-Adler hatten verkündet, um den Tourneesieg mitspringen zu wollen. Es wurde aber gleich relativiert, dass man nichts erzwingen könne, da ja Windglück und sonst noch viele andere Dinge passen müssten. Nach dem ersten Bewerb sprach man vom Tagessieg als Ziel, dann war es nur noch der Stockerlplatz. Wenn man immer nur darauf hoffen muss, dass ein Sieg passiert, und nicht weiß, welche Schritte dorthin zu setzen sind, dann bleibt es immer ein Glücksspiel. Ich bin überzeugt davon, dass Stefan Kraft sich heuer noch steigern wird, der Salzburger hatte nach der Tournee in den letzten Jahren immer eine Hochphase. Doch es ist schade, dass man aus den vergebenen Tourneechancen der letzten Jahre nichts gelernt hat.
Ich vermisse diesen letzten Zug zum Sieg
Halvor Egner Granerud hat es, Dawid Kubacki hat es und Stefan Kraft normalerweise auch – das berühmte „Sieger-Gen“. Für mich beinhaltet dies neben den körperlichen Voraussetzungen eine starke innere Überzeugungskraft und eine unerschütterliche Entschlossenheit, gepaart mit einer Portion gesundem Egoismus. Nicht viele Athleten bringen diese Eigenschaften von selbst mit, die meisten müssen diese auf ihrem Weg an die Spitze mühsam lernen.
Bei den Österreichern scheint das Gespür für das Sieger-Gen nach der Ära der „Superadler“ verloren gegangen zu sein. Vielleicht weil es Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen fördert, die im sozialen Miteinander oft als egoistisch und unkollegial gebrandmarkt werden. Allerdings bewegten sich zu viele vielversprechende Nachwuchsathleten zu lange in einem Mittelmaß, das zwar zunächst eine gute und lehrreiche Zwischenstation ist, aber nicht zur Sackgasse werden darf. In den letzten zehn Jahren hat neben Stefan Kraft, der vermutlich mehr von seinen harten Lehrjahren unter den „Superadlern“ profitiert hat, als ihm bewusst ist, nur Daniel Huber den Sprung zum Sieg-Springer geschafft. Zu lange herrschte ein Credo der unbedingten Zufriedenheit auch mit den kleinsten Erfolgen, das Kritik im Grunde unmöglich machte. Manuel Fettner konnte sich in der Vorsaison mit seinem Olympia-Silber endlich davon lösen, nachdem er jahrzehntelang als ewiges Talent gegolten hatte. Er beschönigt seine Fehler nicht mehr, sagt ausführlich, was er will und was noch nicht passt. Dennoch vermisse ich diesen letzten Zug zum Sieg. Dass Cheftrainer Andreas Widhölzl in einem Interview am Bergisel Stefan Kraft ausrichten lässt, er möge sich im Hinblick auf die „Großen drei“ nicht kleiner machen, als er ist, werte ich als gutes Zeichen. In Bischofshofen, jener Schanze, die alle ÖSV-Adler wie ihre Westentasche kennen, ist alles möglich. Zumindest ein Stockerlplatz, vielleicht sogar ein Sieg wäre ein versöhnlicher Abschluss. Grundsätzlich muss man sich für die Zukunft aber etwas überlegen: Ein Generationenwechsel steht an und jene erfolgreichen Junioren, die unter ihrem ehemaligen Trainer Thomas Thurnbichler alles gewonnen haben, scharren in den Startlöchern. Einer davon ist Daniel Tschofenig. Es wäre schade, wenn diese Talente wieder im Mittelmaß versinken würden.
Ergebnis soll die ÖSV-Adler motivieren
Das Springen gewonnen, aber die Tournee verloren? Sorgte der Bergisel für eine Vorentscheidung im Kampf um den Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee zugunsten von Halvor Egner Granerud? Ich denke schon, denn es ist für Dawid Kubacki fast unmöglich, seinen Rückstand von über 20 Punkten in Bischofshofen aufzuholen.
Bis zum zweiten Durchgang lief für die Polen alles wie am Schnürchen. Granerud war wie Kraft in Garmisch bei schlechteren Bedingungen früher dran, kam auf nur 123 Meter.
Als der Wind stetig besser wurde, musste die Jury verkürzen. Beste Voraussetzungen für Kubacki, dessen Betreuer so nicht das Risiko einer Verkürzung nach Trainerentscheid eingehen mussten. Mit einem großartigen Sprung schmolz der Rückstand auf Granerud dahin.
Doch im zweiten Durchgang drehten sich die Verhältnisse um und Granerud nutzte seine Chance: Mit einem fulminanten Sprung und einem waghalsigen Telemark bei 133 Metern war der Bergisel-Fluch der Norweger gebrochen und die Tournee so gut wie gewonnen. Kubackis zweiter Sprung war nicht sein bester, er wird seinen Sieg daher mit einem lachenden und einem weinenden Auge feiern.
Die Österreicher boten erneut eine kompakt gute Leistung, vier Springer unter den ersten zehn können sich sehen lassen. Der Jubel im Stadion, den ich direkt vor Ort erleben durfte, war ansteckend. Und doch kann ich als ehemaliger Trainer, der immer die absolute Spitze anstrebte, nicht zufrieden sein. Auch wenn Krafts zweiter Sprung wieder viel besser war -vor ihm liegen drei Athleten, die sich in einer eigenen Liga bewegen. Das ÖSV-Team hat derzeit nichts um den Sieg mitzureden und daran muss gearbeitet werden. Ich denke, dass allen Verantwortlichen klar ist, dass das mannschaftlich gute Abschneiden nicht nur als Bestätigung, sondern vor allem als Motivation zu sehen ist. Wesentlich bitterer verlief der Tag gestern für Stefan Horngacher: Die Deutschen sind völlig von der Rolle, harte Kritik wird da nicht ausbleiben.